27.05.2013

Noe 26 – Zeit und Punkt

Noe wusste, dass der Geist wehte, wo er wollte. Ungebeten, unverdient, kaum zu verspüren. Wo Absicht und Erwartung den Menschen gefangen hielten, fand der Geist keinen Platz. Nur loszulassen, sich in Frage zu stellen, weniger zu wollen, ja Bedingungslosigkeit, konnte ihm den Pfad zur Seele bahnen. Unauffällig durchströmte er dann das Leben, hinterliess seine beiläufige Spur, erkennbar erst, wenn alte Erfahrungen in neuem Licht aufschienen und die Schleusen zur Erkenntnis öffneten. „Den Raum dafür musst du selber schaffen“, dachte Noe bei sich, „du aber willst bestimmen, wann das Leben was zu liefern hat, getrieben durch die Angst vor der Fügung, die deiner Macht entzogen ist. Fehlt dir das Zutrauen, dich ungesichert von der Gunst des Atemzuges tragen zu lassen, zu denken ohne dich an stützende Geländer zu klammern? So verbaust du den Fluss, verklebst die Zeit, die du wohl lesen kannst, jedoch nicht zu steuern vermagst“. Wie gerne hätte er ihm nachgerufen: „ Sie zerrinnt - ohne Wiederkehr!“. Doch er schwieg. Alles hatte seine Zeit, so auch dieses. Wann immer jemand eine solch' absichtslose kurze Weile mit Geschichte und Zukunft ausgestalten wollte, wurde der Atem der Gegenwart, der Wirklichkeit, von den widerläufigen Winden ausgefegt und es blieb nur die Flucht. Noe wandte seinen Blick weg vom entfernten Fliehenden, den er eben erst in sein Herz gelassen hatte, und schloss das Fenster.

Mutteristik

Kaum eine Verbindung ist so unklar und verfänglich wie die Mutter-Kind-Beziehung. Nirgendwo sonst wirkt ein vergleichbar verschwom- menes System aus Liebe, Erwartung, Macht und Ohnmacht, Wün- schen, Ängsten, Schuldzuweisung und Sühneleistung, meist verknüpft mit absurden Umgangsmustern. Da bestimmt ein Mensch mit aller Macht über das Leben eines anderen, bis hin zu dessen innersten Formung oder gar Verletzung. Die namenlose Anrede „Mutter“, davon gibt’s Milliarden (wie Väter auch), benützen wir selbst dann noch, wenn wir diesem Rollenspiel längst entwachsen sind.
Die Welt wird nicht besser, obwohl wir dafür fast alles zur Verant- wortung gezogen haben. Den Vätern, der Schule, der Gesellschaft, der Kirche, dem Zeitgeist, Krethi und Plethi haben wir die Schuld zugeschanzt. Ohne Erfolg. Warum trauen wir uns nicht zu fragen, ob es für eine bessere Gesellschaft womöglich bessere Mütter bräuchte? Diese Frage scheint verboten zu sein. Wohl eine Folge jenes faden- scheinigen Respektes, mit dem wir die Aussagen des vorangehenden Abschnittes romantisch verschnörkeln. Ausgerechnet Hermann Hesse, geschätzter Meister zarter Klänge, brachte es auf den Punkt: „Ein Faustschlag ins Gesicht der Pietät gehört zu den Taten, ohne welche man nicht von der Schürze der Mutter loskommt.“

24.05.2013

Schöne neue Welt

Sie fordern die neue Welt und meinen ihr kleines Wohlbefinden. Konventionen sprengen sie mit Regeln, die enger sind als jene, die sie bekämpfen. Sie suchen das Gegenteil des Altbekannten und kriechen genau diesem auf den Leim. Alsbald klaffen Ideal und Fähigkeit auseinander, die Grosszügigkeit erliegt dem eigenen Vorteil, keiner ist mehr bereit, für sein Wunschbild bedingungslos ein Stück eigenen Lebens hinzugeben. Ein Traumschaum von Scheinheiligkeit überdeckt inzwischen den Selbstbetrug. Es blüht die Nabelschau, im Anspruch, aus „gesundem Menschenverstand“, das einzig Richtige zu tun. In der goldgerahmten Vermessenheit, die besseren und gescheiteren Menschen zu sein, belauern sie die Welt mit Argusaugen, suchen alle Fehler dort und nicht bei sich. Zornesmulmig oder naserümpfend fallen sie über Anderslebende her, bauen daraus ihr Selbstwertgefühl, ziehen es mit Leidgenossen zu Mauern hoch, um das ergatterte Plätzchen zu sichern. Hüben wie drüben das alte Lied: Die alternativen Kleinbürger singen nur neue Texte zu alten Melodien und wollen, wie die meisten, ganz einfach ein bequemes Leben, verschanzt hinter dem schützenden Tellerrand, der sie vor den Fährnissen des Lebens bewahrt. Darüber hinaus zu blicken, wirklich Neues anzupacken, wagen auch sie nicht, denn die Bühne der Ideologien und Worthülsen könnte zusammenstürzen.