07.11.2011

Noe 22 - πάντα ῥεῖ

 Wenn die Abende dunkler wurden und sternenklar, verlegte Noe zuweilen seine letzte Gebetszeit hinaus auf die Strasse. Leise murmelnd ging er im Schein der Leuchten den Weg hinauf zur Kirche, hinterher im Dunkeln weiter zum grossen Wegkreuz, an dem ein silberner Jesus im kalten Mondlicht schimmerte. Hier verweilte er für kurze Zeit. Dann führte er seine Schritte hinunter zur Hauptstrasse, wo er schliesslich begann, kreuz und quer zwischen den Häusern herumzuziehen, gerade so wie ihm zumute war. In so manchem kannte er Menschen, einige nur flüchtig, andere besser, und sie schienen in ihm auf, als er nun vor ihren Fenstern stand. Bilder glitten durch seine Gedanken, er fühlte Stimmungen, roch die Räume, gelebte Augenblicke kehrten zurück. Mochte aus einem Haus das bleiche Flackern eines Bildschirm‘s dringen, so fand sich andernorts am Küchentisch eine vertraute Runde, von der er nur Köpfe oder Schatten sah. Wieder andere waren in ihren Zimmern, im Schein der kleinen Lampen, für sich allein beschäftigt, geschützt von grossen Dächern und warmen Öfen. Dieses Wandern der Gedanken von Ort zu Ort, von Mensch zu Mensch, war Noe eigen seit er denken konnte. Besonders liebte er seine betenden Gänge der Verbundenheit durch das stille, warm eingewickelte Abendleben seines Dorfes. Auch wenn er sich tagsüber von einigen dieser Menschen belästigt fühlte, an einem solchen Abend mochte er sie alle und in vielfältiger Weise. Jetzt konnte er sie ausserhalb der Rollen sehen, wie Künstler nach dem Auftritt, die abgespannt und erleichtert waren, die tägliche Darbietung nun hinter sich zu haben. Noe schritt jeweils verschämt voran, denn er wollte sie und sich nicht stören.
( πάντα ῥεῖ : panta rhei - Heraklit = "alles fliesst")