11.01.2013

Noe 25 – Geburtstagsnacht im Spiegel

Noe war einst ein junger Mann seiner Zeit: „Live Fast, Love Hard, Die Young …“. Er wollte sich das Alter nicht ausmalen. Als sich lange danach das HI-Virus verbreitete, teilte er mit betroffenen Menschen deren gezählte Tage. Sie waren jung, verstarben schnell, ein Begräbnis folgte dem anderen. Wie schwer sie auch immer erkrankten, Noe empfand manche von ihnen als heil. Denn sie fügten sich in früher Lebensreife dem Lauf der Dinge, während er, immerhin und doch nur, gesund weiterlebte.
Noe war nun alt und mit ihm seine Fragen. Hatte er die Rufe des Lebens wirklich gehört, sich der Gegenwart ausgeliefert, seinen Geist von ihr durchdringen lassen, oder war er darin mit den vielen eigenen Plänen zum Irrläufer geworden? War er jener offenherzigen Wunsch- losigkeit gefolgt, die scheinbar Sicheres ins Wanken brachte? Wie weit war sein Vorsatz gediehen, inmitten des grenzenlosen Lebens ringsum, die Ansprüche an sein eigenes so zu mindern, dass es dem grossen Ganzen diente? Und hatte er sich von der allgegenwärtigen, so angsterfüllten wie ichbefangenen Gier befreit, welche das eigene Unmittelbare so lange unterdrücken konnte, bis es ganz verlorenging?
Noe löschte das Licht und suchte den Schlaf. Dort gab es keine Zeit.