Dabei ist die Lage einfach: Der Sohn möchte zur
Wirklichkeit, die Mutter klammert sich an Formeln und Lebenslügen. Er sucht
nach Freiheit und sie mutet ihm zu, dass er ihr überangepasstes Angstleben
teilt. Da er nicht auf sie hört, zweifelt sie, ob sie so mit ihm noch verkehren
wolle, beweint ihre verletzte Mütterlichkeit, die verlorene Macht, die
Erfolglosigkeit ihrer Matronen-Diktatur. In dieser Ecke des Lebens ist die
Einsamkeit grenzenlos: Mütter die am Anspruch scheitern, ihre Familien perfekt
darzustellen und nicht fähig sind, ihre Kinder loszulassen. So erwächst den
Familien eine kollektive Verlogenheit, die alle Beteiligten bis zum Lebensende
umklammert. Und dafür soll der Junge sich nun opfern und es weiterführen?
Widerlich.
08.06.2013
Irrliebende Mütter
Sie liebt ihn, solange er ihrem Bild entsprechend
lebt und ihr sagt, was sie zu hören wünscht. Fordert sein Verständnis, wenn sie
ihn nicht verstehen will, verlangt Dankbarkeit, Respekt und Enkelkinder, auf
dass ihre grosse Seele gefüttert werde. Ihre Tränen soll er trocknen, mit denen
sie ihn erpresst, wenn sie die Haltung verliert, wie fast immer. Er möge
gefälligst ihre Träume erfüllen, damit sie den Freundinnen etwas zu erzählen
hat, denn ohne deren Bestätigung wird ihr gläserner Stolz zum Scherbenhaufen.
Sie habe doch alles gut gemacht, sagt sie zum eigenen Trost, zumindest gut
gemeint, während ihre Selbstbezogenheit die Familie zermalmt. Er aber möchte
sie zum Freunde haben, ausserhalb der Rollenspiele. Sie lehnt ab, will die
Mutter bleiben, weiter im Theaterkostüm daher spazieren, hat Angst vor dem
prallen Leben. Er stellt sich echte Freundschaft vor, ohne Kitsch, Bedingung
und Moralgeschäft, während sie ihn sogleich beschuldigt, ihr Bedingungen zu
stellen. Sie verwässert jeden klaren Austausch, jammert, weicht aus, muss
dagegenhalten, gewinnen, kann ihren Bildern nicht entrinnen. Ihr 22-jähriger
befände sich in der Pubertät, klagt sie rundherum, verkündet jene halbe
Wahrheit die sie kennt, suhlt sich im Leid und lässt sich trösten. Schuld an
ihren Qualen seien ihr Sohn und dessen Freunde. Die Engel schweigen. „Ich bin
der Weg, die Wahrheit und das Licht“, haucht ihr Esoterikglaube, und sie findet
die Türen nicht.